CfP: Die Krux mit der Expertise: „Expert:innen“ im 20. Jahrhundert zwischen Wissen(-schaft), öffentlichem Diskurs und Politik

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Workshop

19./20. September 2024
Hamburg

In den letzten Jahren wurde viel über Expert:innen, ihre Rolle in Politik und Öffentlichkeit sowie über ihren damit verbundenen Einfluss diskutiert. Prägnantestes Beispiel dafür ist die Corona-Pandemie; ab 2020 kam unter anderem Virologinnen und Epidemiologen, aber auch vielen weiteren (selbsternannten) Expert:innen eine herausgehobene Bedeutung im öffentlichen Diskurs zu. Vergleichbares lässt sich auch für die Internationale Politik konstatieren. Insbesondere seit 2022 melden sich im Zusammenhang mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, aber auch im Rahmen der geopolitischen Konfrontation zwischen den USA und China, nahezu täglich „Russland-Expert:innen“, „China-Expert:innen“ oder „Militär-Expert:innen“ zu Wort, um ihre Deutung zu den Ereignissen und Entwicklungen massenmedial zu vermitteln.

Daran zeigt sich: Auf der einen Seite sind Expert:innen aus dem öffentlichen Raum kaum mehr wegzudenken, auf der anderen Seite werden die Begriffe Expert:in und Expertise weitgehend unreflektiert genutzt. Vor diesem Hintergrund haben sich Geistes- und Sozialwissenschaftler:innen in den vergangenen Jahrzehnten darum bemüht, Expert:innen und ihre Expertise selbst zum Gegenstand der Forschung zu machen.

Mit unserem Workshop im September 2024 in Hamburg schließen wir daran an: An ausgewählten Untersuchungsgegenständen vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute wollen wir gemeinsam über das Phänomen von Expertise im Spannungsfeld von Wissen(-schaft), öffentlichem Diskurs und Politik nachdenken. Wir verstehen Expert:innen nicht essentialisierend, sondern fragen nach einer reflexiven Verständigung über zentrale Kategorien und Begriffe. Mit diesem Ansatz wollen wir das Konstrukt der Expertise als vielgestaltiges und dynamisches Phänomen erschließen, das den Blick nicht nur auf die Praxis und Interaktionen von Expert:innen richtet, sondern auch die Aushandlungen und Zuschreibungen von Expertise untersucht wie auch die Profiliierungs- und Netzwerkstrategien von Expert:innen. Wie und zwischen wem wird ausgehandelt, wer „Expert:in“ ist? Wie kann man „Expertise“ in Abgrenzung zu Wissen oder Kompetenz fassen? Ist Expertise gleichzusetzen mit „Expert:innenwissen“? Wie ist der Zusammenhang zwischen Wissen, Wissenschaft und Expertise in ausgewählten Zeitperioden und in unterschiedlichen kulturellen Räumen? In welchen Bereichen zeigt sich eine beratende Funktion und praktische Vermittlung von Expert:innen (Politik, Wirtschaft)? Wie wird Expertise in einem spezifischen Feld zum Gegenstand von Zuschreibungen und Aushandlungsprozessen? Welche Bedeutung kommen institutionellen Strukturen als Bedingungsfaktoren von Expertise zu und wie lässt sich die Agency der Expert:innen fassen?

Die Workshop-Beiträge können sich folgenden Leitperspektiven annehmen, sind aber thematisch nicht darauf beschränkt:

  • Kategoriale Überlegungen: Historizität von Expert:innenverständnis, Expertise als Gegenstand diskursiver Aushandlungen und Zuschreibungen in öffentlichem Diskurs und Politik (Selbst- und Fremdzuschreibung)
  • Wissen(-schaft) und Expertise: Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Expertise, Verwissenschaftlichung von Expertise
  • Selbstreflexionen: Rollenverständnis und Self-Fashioning von Expert:innen (Berater, Mittler, Intellektuelle), Statusgewinn und Statusverlust, Einschreiben in (Denk-)Traditionen
  • Netzwerke(n): Praxis des Netzwerkens, Netzwerkbildung als Ressource, Strategie und Produkt von Interaktionen, Ansätze historischer Netzwerkanalyse
  • Praxis I: Öffentlicher Diskurs: Selbst- und Fremdinszenierungen, Öffentlichkeitskommunikation und mediale Resonanzräume, Zuschreibungen von Expertise, Glaubwürdigkeits- und Authentizitätsstrategien, Deutungsansprüche von Expert:innen
  • Praxis II: Politik und Wirtschaft: Gestaltungsansprüche, Praxis des Beratens und Vermittelns, methodische Reflexionen zur Wirkmächtigkeit von Expert:innen
  • Agency und Strukturen: Einbindung von Expert:innen, Abhängigkeits- und Verflechtungsstrukturen, Entstehung und Wandel von Handlungsspielräumen
  • Expertenkulturen: Sprache, Habitus, Konjunkturen, Zäsuren, Konkurrenzen, Expert:innenkartelle, Kritik und Krisen

Zur Teilnahme an unserem Workshop laden wir alle ein, die sich auf kritische Weise mit Expert:innen, ihrem Handeln und ihrer Selbstreflexion befassen möchten. Die empirischen Gegenstände, mit denen wir uns den Leitperspektiven annähern wollen, sollten vorzugsweise aus dem 20. Jahrhundert stammen, Beiträge aus anderen Zeitperioden heißen wir aber ebenfalls ausdrücklich willkommen. Neben Fallstudien und kategorialen Reflexionen aus dem westlich-europäischen Kontext freuen wir uns vor allem auch auf Tiefenbohrungen, bspw. aus dem osteuropäischen oder asiatischen Kontext. Der Workshop ist interdisziplinär angelegt; wir begrüßen Beiträge nicht nur aus der Geschichtswissenschaft, sondern auch aus Disziplinen wie bspw. der Rechtswissenschaft, Philosophie, Politikwissenschaft, Soziologie, Ethnologie oder der Regionalforschung. Vorzug wird laufenden Forschungsprojekten aus Promotions- und Habilitationsvorhaben gegeben, der Workshop steht aber grundsätzlich allen Interessent:innen offen. Beiträge können auf Deutsch oder auf Englisch präsentiert werden, die Workshop-Sprache ist Deutsch.

Wir freuen uns, dass wir Herrn Prof. Dr. Caspar Hirschi (Universität St. Gallen) für eine Keynote zum Workshop-Thema gewinnen konnten. Sein Vortrag trägt den Titel:

„Wissenschaftliche Expertise in den Medien und in der Politikberatung:
Das Spannungsverhältnis einer Doppelrolle von Oppenheimer bis Drosten“

Wir bitten um die Einreichung von Projektskizzen (max. 2 Seiten) und eines knappen wissenschaftlichen Lebenslaufs zum 31.03.2024 an die Organisatoren messingschlager@hsu-hh.de und paul.schroeck@geschichte.uni-freiburg.de

Organisatoren:

Stefan Messingschlager
Helmut-Schmidt-Universität/ Universität der Bundeswehr Hamburg
E-Mail: messingschlager@hsu-hh.de

Paul Schröck
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
E-Mail: paul.schroeck@geschichte.uni-freiburg.de